Was drin ist aber nicht drauf steht
Ein Streifzug durch die Welt der Zusatzstoffe, Enzyme und Verarbeitungshilfsstoffe
Die aktuellen Lebensmittelskandale um Pferdefleisch und Bio-Eier führen vor Augen, dass in der Verpackung nicht immer das enthalten ist, was drauf steht. Aber auch jenseits der Skandale erfahren Verbraucher beim Einkaufen im Supermarkt nicht unbedingt das, was für sie von Interesse ist. Was steckt dahinter, wenn die Industrie statt E-Nummern zu „natürlich“ klingenden Stoffen übergeht? Was bedeutet es für den Verbraucher, wenn die sogenannten Verarbeitungshilfsstoffe erst gar nicht gekennzeichnet werden? Und ist es möglich, beim Einkauf konsequent auf tierische Erzeugnisse und Gentechnik im Herstellungsprozess zu verzichten?

„Ich lese mir schon des öfteren die Zutatenliste durch. Und eigentlich vermeide ich Produkte, bei denen die Liste ewig lang ist.“, sagt Lisa Sonnenburg, während sie mit ihrem Einkaufswagen durch den Supermarkt schlendert. Die 27-jährige bezeichnet sich selbst als gesundheitsbewusst. „Trotzdem greife ich auch gerne mal zu Keksen oder Chips, weil die so gut schmecken.“
Gesundheitsschädlich sind die rund 300 Zusatzstoffe auf dem Markt nicht. Das zumindest besagen die toxikologischen Tests, die sie durchlaufen müssen, bevor sie zugelassen werden. Hierzu muss der Hersteller die entsprechenden Untersuchungen durchführen lassen. Die Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) prüft dann lediglich die Daten und entscheidet über eine EU-weite Zulassung. In Deutschland ist es das Bundesinstitut für Risikobewertung, das mit der EFSA zusammenarbeitet.
Rainer Gürtler, Geschäftsführer der Kommission für Lebensmittelzusatzstoffe, Aromastoffe und Verarbeitungshilfsstoffe des Bundesinstituts für Risikobewertung, hält dieses Vorgehen für zuverlässig: „Die toxikologischen Prüfungen werden mit standardisierten Prüfverfahren von Laboren durchgeführt, die bestimmten Qualitätsstandards entsprechen müssen. Es gibt internationale Richtlinien für die Prüfverfahren und Qualitätskriterien, die eingehalten werden müssen.“ Der Lebensmittelchemiker Hasan Taschan weist jedoch darauf hin: „Es kann auch Fälle geben, bei denen im Nachhinein Bedenken auftauchen. Beim Süßstoff Aspartam zum Beispiel gibt es Hinweise für den Zusammenhang mit Gehirntumoren aber keine Beweise.“
Die Zutatenliste muss alle Zusatzstoffe aufführen, die in dem Lebensmittel eine bestimmte Wirkung entfalten. Darunter fällt zum Beispiel das Verdickungsmittel Carageen in der Sahne. Gelangt diese Sahne nun in den Rahmspinat, so steht auf dessen Verpackung lediglich, dass Sahne darin enthalten ist, das Verdickungsmittel in der Sahne ist nicht mehr kennzeichnungspflichtig, weil es im Spinat nicht mehr verdickend wirkt.
Weniger Chemie mit der „Clean-Labeling Strategie“?
„Ob die Vorbehalte nun berechtigt sind oder nicht, die E-Nummern, die jeder Zusatzstoff trägt, sind bei Verbrauchern unbeliebt. Chemie verkauft sich nicht gut“, sagt Lothar Kipper, Leiter des Fachgebietes Tierische Lebensmittel beim Hessischen Landeslabor.
Die Lebensmittelindustrie ist in den letzten Jahren vermehrt zum „Clean Labeling“ übergegangen: Sie ersetzt chemische Bezeichnungen und E-Nummern durch Angaben, die natürlich klingen. So zum Beispiel die Pökelsalze Nitrit und Nitrat. In Fleischwaren werden sie als Konservierungsstoff eingesetzt. Einige Lebensmittelhersteller setzen statt ihnen Gemüsepulver ein. „Dieses Gemüsepulver hat einen hohen Nitratanteil“, sagt Lothar Kippper, „so kann der Verbraucher unter dem Mäntelchen natürlicher Erzeugnisse die gleichen chemischen Stoffe untergeschoben bekommen.“ Er halte das für Verbrauchertäuschung. Auch das gesundheitliche Risiko bleibt bestehen. Der Körper wandelt Nitrat in Nitrit um und daraus können krebserregende Nitrosamine entstehen. Die Lebensmittelindustrie ringt währenddessen nach ansprechenden Werbebotschaften. Im beschriebenen Fall ist die Bezeichnung „ohne Konservierungsstoffe“ zwar unzulässig, aber mit „ohne Zusatz von Konservierungsstoffen“ darf geworben werden.
Auch Milcheiweiße sind sehr beliebt, denn isoliert und aufkonzentriert können sie je nach Zusammensetzung als Verdickungsmittel, Emulgator, Schaummittel, Konservierungsstoff oder Fettersatz wirken. All das verbirgt sich hinter Kennzeichnungen wie „Molkeerzeugnis“, „Milcheiweiß“ oder „Trockenmilcherzeugnis“. Der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer sieht das in seinem Buch „Food Design – Panschen erlaubt“ kritisch: „Wenn … man in einem Teelöffel den Extrakt aus 10000 Litern Milch enthält, kann das Ganze wie der Inhalt eines Tablettenröllchens wirken. Der Kunde speist einen Cocktail mit potenzieller medizinischer Wirkung.“
Ab wann eine Zutat ein Zusatzstoff ist und wann es sich lediglich um eine nicht zulassungspflichtige Lebensmittelzutat handelt, ist eine Frage des Lebensmittelrechts. Hier gilt die EU-Basisverordnung, die einen Zusatzstoff als solchen definiert, der nicht als Lebensmittel verzehrt, sondern dem Lebensmittel aus technologischen Gründen zugesetzt wird. Milcheiweiß gilt als Zutat, nicht als Zusatzstoff. Ausgenommen aus den Zusatzstoffen sind nämlich jene, die dem Lebensmittel aus ernährungsphysiologischen Gründen zugesetzt werden. „Darauf kann sich die Industrie immer beziehen“, sagt der Lebensmittelchemiker Hasan Taschan. „Ich würde es als offenes Geheimnis bezeichnen: Beta Carotin wird als Farbstoff verwendet, Vitamin C zur Konservierung aber die Hersteller sagen, dass sie ein vitaminisiertes Lebensmittel herstellen. Damit erfüllen sie die gesetzlichen Vorschriften und können statt Farbstoff oder Konservierungsstoff Vitamin A und Vitamin C schreiben.“
Lisa Sonnenburg, die selbst Ernährungswissenschaften studiert, greift zu den Fruchtgummis. Sie gesteht sich ein: „Also das mit dem Clean Labeling wirkt schon irgendwie. Es liest sich auf jeden Fall besser, wenn auf der Packung etwas von färbenden Frucht- und Pflanzenextrakten steht anstatt E124 und E132.“
Was gar nicht erst auf den Teller kommt, oder doch?
Verarbeitungshilfsstoffe müssen erst gar nicht deklariert werden, da die Hersteller und Gesetzgeber davon ausgehen, dass so gut wie keine Rückstände im Lebensmittel verbleiben. Sie kommen aus technologischen Gründen bei der Be- und Verarbeitung zum Einsatz. Hierunter fallen zum Beispiel Extraktionsmittel für Olivenöl oder Gelatine, mithilfe derer trübe Säfte geklärt werden. Unbeabsichtigte und unvermeidbare Rückstände müssen gesundheitlich unbedenklich sein – so heißt es im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Und dafür hat der Hersteller zu sorgen. Toxikologische Zulassungsverfahren müssen diese Stoffe nicht durchlaufen.
Für Lisa Sonnenburg, die seit knapp zwei Jahren konsequent auf Fleisch und Milchprodukte verzichtet, sind diese Stoffe von besonderem Interesse: „Ich ernähre mich vegan, und wenn ich mir einen Saft kaufe, dann möchte ich nicht, dass er mit Gelatine, also einem tierischen Produkt, behandelt wurde. Auf der Verpackung steht aber nichts davon drauf.“
Doch auch wenn die Stoffe als unbedenklich gelten, sollte der Verbraucher nicht trotzdem von ihnen erfahren? Lebensmittelchemiker Hasan Taschan befürwortet eine Kennzeichnung mit Blick auf das Kaltentkeimungsmittel Dimethyldicarbonat, das unter dem Handelsnamen Velcorin bekannt ist. Dieser Stoff wird bei der Abfüllung hitzeempfindlicher PET-Flaschen eingesetzt, um bei niedrigen Temperaturen unliebsame Keime abzutöten. In der Ursprungsform ist der Stoff sehr giftig, immerhin handelt es sich um ein Desinfektionsmittel. Dadurch, dass er aber sehr reaktionsfreudig ist, bleiben binnen weniger Stunden nur noch ein paar Reaktionsprodukte übrig, die die EFSA in den gemessenen Konzentrationen nicht als schädlich ansieht. Hasan Taschan: „Meines Erachtens nach ist dieses Velcorin eine Zutat und sollte dementsprechend gekennzeichnet werden. Das ist vergleichbar mit Ascorbinsäure. Die reagiert auch mit anderen Stoffen und existiert dann nicht mehr als Ausgangssubstanz, muss aber trotzdem gekennzeichnet werden.“
Ein anderes Desinfektionsmittel ist Wasserstoffperoxid. Mit ihm werden Lebensmittelverpackungen sterilisiert. Ein klassisches Beispiel sind Tetrapack-Kartons, auf die das Mittel vor der Faltung aufgebracht wird. Mithilfe von UV-Licht zerfallen die Reste der Substanz, bevor das Lebensmittel hinein kommt. „Wenn alles korrekt funktioniert, ist das Verfahren unproblematisch“, sagt Lothar Kipper vom Hessischen Landeslabor. „Nur ganz selten finden wir Rückstände in der Milch, die wir standardmäßig untersuchen. Dann müssen die technischen Prozesse überprüft werden.“
Enzyme, die beliebten kleinen Helfer
Technologische Funktionen erfüllen auch die Enzyme. Eiweiße, die bestimmte Prozesse in Lebensmitteln beschleunigen und vornehmlich durch gentechnisch veränderte Mikroorganismen, nämlich Hefen, Schimmelpilze und Bakterien gewonnen werden. Sie vereinheitlichen bei Backwaren beispielsweise die Konsistenz des Teiges. Auch Käse wird erst zu Käse, nachdem bestimmte Enzyme, meist aus dem Labmagen von Kälbern gewonnen, das Eiweiß gerinnen lassen. Enzyme bieten zudem die Möglichkeit zu konservieren ohne deklariert werden zu müssen. Einige von ihnen wirken nämlich antibiotisch und bekämpfen Keime in Räucherlachs, Fleischwaren oder Fertigsalaten.
Statt Enzymen kann man auch Bakterienkulturen hinzufügen. Milchsäurebakterien beispielsweise senken den pH-Wert in Lebensmitteln, so dass bestimmte Keime in diesem Milieu nicht mehr überleben. Früher sind sie in Form von Verunreinigungen in das Kraut gelangt, das daraufhin zu Sauerkraut wurde, heute werden sie isoliert zugefügt. Formal müssten diese Kulturen in der Zutatenliste aufgeführt werden, doch Lothar Kipper räumt ein: „Ich habe mir mal verschiedene Fertigverpackungen von Rohwurst-Produkten angeschaut. Erzeugnisse aus Frankreich trugen die Aufschrift „Reifekultur“ oder „Starterkultur“, bei den deutschen Produkten stand nichts drauf. Rechtlich betrachtet ist das unzulässig. Aber ich halte das Verfahren für gesundheitlich unbedenklich.“
Bisher unterlagen Enzyme keiner Zulassungs- und Kennzeichnungspflicht. Mit der neuen Enzymverordnung soll sich das ändern. Die EFSA erstellt zur Zeit eine Liste der zugelassenen Enzyme. Diese müssen zukünftig eine ähnliche Zulassung wie Zusatzstoffe durchlaufen. Bis Oktober 2013 haben die Lebensmittelhersteller Zeit, die Unbedenklichkeit mithilfe wissenschaftlicher Daten zu belegen. Auf der Liste wird einsehbar sein, welche Enzyme für welche Lebensmittel zugelassen sind. „Ich begrüße es, dass die EFSA diese Bewertung durchführt“, sagt Hasan Taschan. „Damit wird es auch für Lebensmittelkontrolleure einfacher, sich mit Enzymen auseinanderzusetzen.“ Eine Kennzeichnung wird allerdings nur erforderlich sein, wenn das Enzym im Endprodukt technologisch wirkt, wie das Lysozym, das den Käse konserviert. Nicht jedoch die Proteinasen im Brot, die durch die Hitze im Backofen inaktiviert wurden.

Bewusste Konsumentscheidung gegen tierische Stoffe und Gentechnologie?
Lisa Sonnenburg steht vor einem Regal mit Backwaren. „Es ist kaum zu glauben, in wie vielen Produkten tierische Erzeugnisse drin sind, von denen man es gar nicht annehmen würde“, bemängelt die Veganerin. Auf einigen Produkten steht „Butterreinfett“ oder „Volleipulver“ und damit ist klar, dass es sich um tierische Stoffe handelt. Anders ist das bei dem Farbstoff „Cochenille“ oder den „Mono- und Diglyceriden von Speisefettsäuren“. „Ich finde das sehr anstrengend, dass ich bei diesen Bezeichnungen selbst herausfinden muss, woraus sie hergestellt werden. Ich finde das sollte von vornherein drauf stehen“, ärgert sie sich. Abhilfe gibt es, die Kennzeichnung erfolgt allerdings nur auf freiwilliger Basis.
Hersteller können mit den Worten „vegetarisch“ oder „vegan“ ihr Produkt herausstellen. „Diese Aufschriften sind lebensmittelrechtlich aber nicht definiert, man kennt also nicht die Kriterien, die dahinter stehen“, sagt Waltraud Fesser von der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. Sie empfiehlt stattdessen das von der Dachorganisation europäischer Vegetariervereine herausgegebene „V-Label“, denn dafür gelten bestimmte Standards. Demnach darf aus Kälberlab hergestellter Käse, mit Gelatine geklärter Fruchtsaft oder Margarine mit tierischen Fetten dieses Label nicht tragen. Waltraud Fesser: „Für Personen, die sich vegetarisch oder vegan ernähren, bringt das Siegel auf jeden Fall Zusatzinformationen, die der Zutatenliste nicht zu entnehmen sind.“ Gentechnisch veränderte Produkte dürfen das Siegel auch nicht bekommen.

Aber was ist mit Enzymen, Vitaminen, Zusatzstoffen oder Aromen, die mithilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen hergestellt wurden? Zugesetztes Beta-Carotin, Vitamin C, Milchsäure… all diese Stoffe werden heutzutage hauptsächlich durch gentechnisch veränderte Mikroorganismen gewonnen. Gekennzeichnet werden muss das nicht. Für Personen, die vollständig auf Gentechnik verzichten möchten, gibt es hierfür ein weiteres Siegel vom Verband Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG). Für pflanzliche Lebensmittel gilt ein vollständiges Verbot für gentechnisch veränderte Zutaten oder Zusatzstoffe. Es dürfen auch keine Enzyme, Vitamine oder Aromen verwendet werden, die mithilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen erzeugt wurden. Bei den tierischen Produkten sind die Standards niedriger, erklärt Waltraud Fesser: „Die Fütterung mit gentechnisch verändertem Futter ist nur für einen bestimmten Zeitraum vor der Schlachtung untersagt. Futtermittelzutaten oder -zusatzstoffe dürfen ebenfalls mithilfe gentechnischer Verfahren gewonnen werden. Und dann gibt es noch die unvermeidbaren oder zufälligen Verunreinigungen, die bis zu 0,9 Prozent betragen dürfen.“ Ihr Fazit: „Im pflanzlichen Bereich ist das Siegel sicher, bei den tierischen Produkten muss der Verbraucher Zugeständnisse machen“.
Lisa Sonnenburgs Einkaufswagen ist inzwischen voll. Neben reichlich Obst und Gemüse hat sie sich für Brotaufstriche, Sojaschnitzel, Karamellwaffeln und Fruchtgummis entschieden. „Leider tragen nur wenige Produkte das V-Label und auf keinem ist das ohne Gentechnik-Zeichen drauf“, bemerkt sie. „Das finde ich schade, denn durch die Siegel kann ich mich darauf verlassen, was drin ist oder eben nicht.“ Sie hat auch ein paar Lebensmittel mit dem EU-Bio-Siegel eingepackt. Auch hier sind Zusatzstoffe erlaubt, allerdings nur rund 40 Stück. Gentechnik ist auf allen Herstellungsstufen ausgeschlossen. Und auch bei Aromen, Enzymen und Verarbeitungshilfsstoffen kann man sicher sein, dass auf Gentechnik verzichtet wurde.
Während der Kassierer die Produkte über die Kasse zieht bleibt festzuhalten: Wem Chemie oder Gentechnik Unbehagen bereiten, kann immer noch auf weniger verarbeitete Lebensmittel oder auf Bio-Produkte zurückgreifen. Doch Lisa Sonnenburg stöhnt: „Das ist schon ganz schön kompliziert mit den vielen verschiedenen Stoffen.“ Sie beschließt, sich noch kurz im Biergarten nebenan zu entspannen. „Immerhin unterliegt Bier dem Reinheitsgebot, und das gibt es schon seit 1516, vor jedem Bio-Siegel!“
wiseum - 1. Mai, 15:02