Dienstag, 24. November 2009

Gender und Ernährung - Warum Frauen und Männer sich unterschiedlich ernähren

Männer essen einfach mehr Fleisch während Frauen vor allem auf Obst und Salate stehen. Ein Klischee oder eine Tatsache? Dass die Ernährung sich zwischen Mann und Frau tatsächlich unterscheidet, zeigt die Nationale Verzehrsstudie II. Woher die Unterschiede kommen, das ist weitaus schwieriger zu untersuchen.



Am deutlichsten zeigt sich das unterschiedliche Ernährungsverhalten beim Fleischkonsum. Männer verzehren davon deutlich mehr und auch häufiger. Frauen hingegen zeichnen sich durch den Verzehr von viel Obst und Gemüse aus, von Milchprodukten und Vollwert- bzw. Diätware. Sie nehmen insgesamt weniger tierische Fette zu sich.
Versucht man dies auf körperliche Prozesse zurückzuführen, gelangt man schnell an Grenzen der Erklärung. Denn beispielsweise reicht der im Durchschnitt geringfügig größere Energiebedarf von Männern nicht aus, um die derart unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten zu begründen.

Den Ernährungswissenschaften liegen bestimmte Annahmen zugrunde, die beispielsweise den Bedarf an Nahrungsenergie in Form einer Norm festlegen und dabei auf biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern bezüglich des Energiebedarfs rekurrieren. Die Ernährungssoziologin Monika Setzwein sieht darin eine Gefahr: „Eine statistische Tendenz wird zu einer gesellschaftlichen Regel erhoben, die nicht nur unsere Deutungsschemata strukturiert, sondern gleichfalls zu einer normativen Erwartung an das Verhalten anderer wird.“ Man könnte also verkürzt sagen, Männer essen so viel Fleisch, weil es gesellschaftlich von ihnen erwartet wird.

Nahrungsmittelkonsum als Ausdruck von Geschlechtszugehörigkeit

Sind diese geschlechtsspezifischen Unterschiede Ausdruck der Anpassung an eine gesellschaftliche Norm oder handelt es sich gar um die aktive Konstruktion von Geschlechtsidentität? Die Kategorisierungen in „männlich“ und „weiblich“ dienen der Komplexitätsreduktion und machen unser Verhalten berechenbar. So kann man geschlechtsspezifische Verhaltensweisen so lesen, dass sie die Geschlechtszugehörigkeit aktiv ausdrücken. Monika Setzwein schreibt hierzu: „Um die individuelle Geschlechtszugehörigkeit herzustellen, werden Objekte, soziale Räume, Körpermerkmale, Verhaltensweisen usw. vergeschlechtlicht. Und indem diese Dinge oder Eigenschaften einem Geschlecht zugeschrieben werden, erhalten sie selbst ein Geschlecht, das seinerseits vergeschlechtlichend wirkt und somit zur Quelle von Geschlechtsdarstellungen gemacht werden kann.“
Zum Beispiel wird Fleisch, dadurch dass es verstärkt von Männern verzehrt wird, für etwas „männliches“ gehalten. Daraufhin wird der Fleischverzehr mit männlichem Verhalten in Verbindung gebracht und kann schließlich in der gesellschaftlichen Darstellung von Geschlecht verwendet werden.

Diese deutlichen Unterschiede in der Ernährung lassen sich im Kindesalter noch nicht feststellen. Sie kristallisieren sich vor allem in der Pubertät heraus. In dieser Zeit findet eine starke Persönlichkeitsentwicklung statt. Ein wichtiges Merkmal dieser Entwicklung ist die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht. In dieser Phase von Umbruch und Veränderung stellt das Geschlecht eine wichtige Konstante und Ordnungsgröße dar. Daraus wird ersichtlich, warum geschlechtsspezifische Ernährung in diesen Jahren an Bedeutung gewinnt.
Dass Mädchen in der Pubertät zunehmend Diäten machen, Jungen hingegen vermehrt Alkohol trinken, ist als Versuch zu verstehen, sich als Mädchen bzw. Junge darzustellen, die Geschlechtsidentität auszudrücken.

Hinzu kommt eine unterschiedliche Bewertung von außen. Wenn Frauen und Männer die gleiche Speise (und Menge) auf dem Teller haben, so wird dieser Sachverhalt durch die Gesellschaft unterschiedlich bewertet. Stellen Sie sich vor wie eine Frau ein noch blutiges Steak verspeist im Beisein eines Mannes, der sich für einen Salat entschieden hat. Isst eine Frau zudem eine große Portion, wirkt sich dies negativ auf die Beurteilung ihrer Attraktivität aus. Denn es besteht die allgemeine Verbindung von kleinen Portionen mit Weiblichkeit und großen Portionen mit Männlichkeit und Stärke. Je extremer ein Konsum gestaltet ist, desto eher wird er als „männliche“ Verhaltensweise dargestellt. „Starke Raucher“, „harte Trinker“, „kräftige Esser“ sind kaum in Beschreibungen „weiblicher“ Praktiken zu finden.

Die größere Gesundheitsorientierung bei Frauen lässt sich auf das gängige Schlankheitsideal zurückführen und ist somit eher eine Attraktivitäts- als Gesundheitsorientierung. Daher achten Frauen tendenziell eher darauf, beim Essen nicht zuzunehmen und machen häufiger Diäten. Die Frau wird stärker als der Mann über ihren Körper definiert. Somit lastet auch ein größerer Druck auf ihr, bestimmte Körpernormen zu erfüllen.

Die Symbolik von Fleisch

Nahrungsmittel können der Geschlechtsdarstellung dienen, weil sie einen Symbolgehalt besitzen. Besonders gut zeigen lässt sich dies am Beispiel von Fleisch. Männer meiden Lebensmittel, denen ein Minderheitsgefühl anhaftet. Das sind oft Lebensmittel, die von Frauen, Kindern, Alten verzehrt werden, Personen also, die geringeren Status in der Gesellschaft haben. Rotes Fleisch am Stück (kein gehacktes oder geschnetzeltes) gilt als ein typisch männliches Nahrungsmittel. Es symbolisiert Kraft, Stärke, Potenz und Macht. Denn hier wurde die Natur besiegt (und zwar durch Männerhand, nicht durch Krankheit, Unfall, Kälte o.ä.). Die Beibehaltung dieser Assoziationen ist umso erstaunlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die heutige Praxis der industriellen Fleischherstellung und Massentierhaltung aussieht. Doch auch diese ist letztlich ein Zeichen von NaturbeHERRschung. Wiese bleiben die archaischen Bilder des Mannes als Jäger dennoch in unseren Köpfen? Jana Rückert-John von der Universität Hohenheim erklärt das mit der Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen. „Es ist beschreibbar mit Ontologie, der Fixierung des Seins. Wenn man davon ausgeht, dass eine funktional differenzierte Gesellschaft immer komplexer wird, immer mehr Risiken und Gefahren birgt, Orientierung verloren geht, dass dann der Glaube an Sicherheiten, an Fixierungen wie die Geschlechtsunterschiede unglaubliche Sicherheit gibt.“

Die Unterwerfung der Natur in Form von Fleischkonsum dokumentiert auch die Herrschaft der Männer über Frauen, die der Natur gleichgesetzt werden und der Kultiviertheit der Männer gegenüberstehen.
Fleisch symbolisiert die Kraft des Tieres, die sich beim Einverleiben auf den Menschen (den Mann) überträgt. Der Mann drück dadurch seine Überlegenheit gegenüber der Natur aus, seine Macht über Leben und Tod entscheiden zu können. Gemüse wird mit Frauen assoziiert, da diese überwiegend Acker- bzw. Gartenbau betreiben (oder betrieben haben). Laut Setzwein steht pflanzliche Kost der tierischen aus folgendem Grund auf niedrigerer Stufe gegenüber: „Eine frugivore Lebensweise wird häufig mit Friedfertigkeit assoziiert, einer Eigenschaft also, die im physisch ausgetragenen Kampf zum Unterliegen führen muss und damit eher Beute- denn Machtpositionen begründet.“

Auch Zubereitungsarten und Verzehrssituationen sind vergeschlechtlicht, was beispielsweise im Gegensatzpaar „kochen“ und „grillen“ deutlich wird: das Kochen gilt als weibliches, privates Tätigkeitsfeld, das Grillen ist männlich konnotiert und kann der öffentlichen Sphäre zugeordnet werden. Männliches Hobby steht weiblicher Arbeit gegenüber. Anders ist das beim professionellen Kochen. Handelt es sich um den Beruf und damit zusammenhängend um Prestige, ist hier wieder der männliche Koch der dominante.

Ernährung und Sexualität

Sowohl der Ernährung als auch der Fortpflanzung ist der Zweck des Überlebens inhärent. Beides ist unmittelbar mit Lust verknüpft. Während die Befriedigung von Durst und Hunger jedoch unmittelbar zu geschehen hat, lässt sich die sexuelle Befriedigung zeitlich aufschieben und auch verdrängen oder sublimieren. So wird Essen oft als Kompensation für anderweitige Lustversagung gedeutet. Die Frau ist verpönt, wenn sie sich den Magen vollschlägt oder volltrunken ist, gleiches gilt für ihr Sexualverhalten. Beim Mann ist das Gegenteil der Fall. Die Speiselust korreliert in ihrer Symbolik mit sexueller Leidenschaft. Die Negierung der sexuellen Leidenschaft von Frauen drückt sich dadurch aus, dass weibliches Essen zum Sündenfall wird.
Als negatives Gegenbild hierzu ist die „animalisch verschlingende“, „bedrohlich unersättliche“ Frau zu finden. Dieses Bild ist auf die männliche „Angst vor einer triebhaften weiblichen Sexualität, die sich des männlichen Körpers geradezu imperialistisch bemächtigt“ zurückzuführen (Setzwein).
Wenn Männer in pornografischen Zusammenhängen oder am Stammtisch über Frauen reden, fallen Termini des Fleischsystems. Der Mann schätzt ab, ob die Frau ein „Leckerbissen“ ist oder nicht. Er ist das handelnde und das bewertende Subjekt.
Interessant ist, dass die Gleichsetzung von Mann bzw. Frau und Natur oder Fleisch in unterschiedlicher Weise erfolgt: Wird bei Männern dadurch ihre physische Stärke und archaische Überlegenheit sowie sexuelle Kraft ausgedrückt, so geschieht dies bei der Frau, indem ihr geistige Fähigkeiten abgesprochen werden und es ihr als Schwäche ausgelegt wird, ihren Körper nicht unter Kontrolle zu haben.

Das Ernährungsverhalten lässt sich mit diesem konstruktivistischen Ansatz deuten. Sind biologistische Ansätze aber mit dem soziologischen vereinbar?
Jana Rückert-John meint dazu: „Biologische Evolution ist von soziokultureller Evolution gar nicht mehr zu trennen. Diese Verzahnung von Kultur und Natur, danach zu fragen, was ist jetzt eigentlich Natur, was ist Kultur, das führt meiner Meinung nach in eine Sackgasse.“

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